Das Gleichnis von der unnütz gewordenen Rettungsstation (von Theodore O. Wedel)

An einer gefährlichen Küste machten vor Zeiten ein paar Leute eine Rettungsstation für Schiffbrüchige auf. Zu dieser Rettungsstation gehörte nur ein einziges Boot. Mit diesem wagte sich die
kleine, mutige Mannschaft immer wieder, bei Tag und bei Nacht, auf das Meer hinaus, um Schiffbrüchige zu retten. Es dauerte nicht lange, bis dieser kleine Stützpunkt bald überall bekannt war.

Viele der Geretteten und auch andere Leute aus der Umgebung waren gern bereit, die armselige
Station mit Geld zu unterstützen. Die Zahl der Gönner wuchs und wuchs. Mit dem Geld, das sie
spendeten, wurde die Rettungsstation großzügig ausgebaut, immer schöner und komfortabler.
Sie wurde allmählich zu einem beliebten Aufenthaltsort und diente schließlich den Männern als
eine Art Klubhaus.

Immer mehr Mannschaftsmitglieder weigerten sich nun, auszufahren und Schiffbrüchige zu retten. Sie wollten den Rettungsdienst überhaupt einstellen, weil er unangenehm und dem normalen Klubbetrieb hinderlich sei.

Ein paar Mutige, die den Standpunkt vertraten, dass Lebensrettung ihre vorrangige Aufgabe sei,
trennten sich von ihnen. Nicht weit davon entfernt begannen sie mit geringen Mitteln eine neue
Rettungsstation aufzubauen. Aber auch sie erfuhr nach einiger Zeit dasselbe Schicksal: Ihr guter
Ruf verbreitete sich schnell, es gab neue Gönner, und es entstand ein neues Klubhaus. So kam
es dann schließlich zur Gründung einer dritten Rettungsstation. Doch auch hier wiederholte sich
die gleiche Geschichte ...


Wer heute diese Küste besucht, findet längs der Uferstraße eine beträchtliche Reihe exklusiver
Klubs. Immer noch wird die Küste vielen Schiffen zum Verhängnis; nur - die meisten Schiffbrüchigen ertrinken.

  • Wedel, Theodore O.:
    Das Gleichnis von der unnütz gewordenen Rettungsstation. In: Howard J. Clinebell, Modelle beratender Seelsorge, München / Mainz 1977